Die Frage, ob es mehrere deutsche Literaturen gäbe, ist müßig geworden. Selbst zu Zeiten, als die im Osten und Westen unterschiedliche Art zu schreiben nicht nur Lektoren und Germanisten interessierte, war sie so unsinnig wie die nach österreichischer und schweizerischer oder portugiesischer und brasilianischer Literatur. Auch wenn in den lakonischen Geschichten, Miniaturen und Skizzen Thomas Bachmanns DDR-typische Produkte wie der notorische DKK der Kühlschrankwerke Scharfenstein oder das allgegenwärtige Spülmittel Fit vorkommen, ist dies nur Lokalkolorit einer Prosa, die im Gehalt über ihren Anlaß hinausgeht. Literatur braucht kein Land, sie braucht Sprache und Inhalte. „Alles ist voller Geschichten“ – so heißt es im Brief von Ost- nach Westleipzig im Juni 99 (S. 33), wo es um zwei Freunde geht, die im Laufe eines Jahrzehnts ihren Platz in der Stadt finden. Dieser „Brief“ ist exemplarisch: Im Mikrokosmos des Individuums wird der Makrokosmos von Stadt, Land und Welt sichtbar gemacht; Einzelschicksale und Einzelerscheinungen werden zu einem Gesamtgesellschafts- und Stimmungsbild gefügt, in allen Stücken dieses Bandes erfüllt ein unverwechselbares Fluidum den sozialen Raum und die Zeit, herrscht eine bestimmte Atmosphäre. In den variablen Genres der Kurzprosa findet Thomas Bachmann das literarische Medium, um unterschiedlichste Wirkungen bis hin zum Absurden zu erzielen. Bachmanns Hauptthema ist die gegenwärtige Welt im Wandlungsprozeß. Seine Sicht wirkt realistisch, lebenserfahren, illusionslos und skeptisch, bisweilen ist sie auch ironisch und satirisch bis hin zum skurrilen Humor. Aber nicht nur die Ereignisse von 1989 und ihre regionalen, nationalen und internationalen Folgen werden dabei mit dem Blick und der Empirie eines hellsichtigen Dabeigewesenen thematisiert und zu einem Feld intensiver Reflexionen gemacht; eine Vielzahl der Texte sind im besten Sinne zeitlos. Ihre Figuren sind im äußeren Erscheinungsbild und im inneren Wesen erfaßt und charakterisiert; überwiegend anonym und doch von unverwechselbarer Individualität. Man trifft auf Impressionen und Wirklichkeitsausschnitte als Momentaufnahmen, in denen Innenräume weit ausgedehnt werden. Charakteristisch sind auch Unbestimmtheitsstellen, die den Leser zu Fragen provozieren, wie zum Beispiel über das Geschick des verunglückten Kindes in der Erzählung Licht (S. 140). In solchen Geschichten wirken ausgeprägte Sensibilität für psychische Vorgänge und Stimmungen. Die Themenvielfalt dieser Prosa ist reich und verblüffend: die Erlebniswelt der Kindheit (Der Teich hinter den Garagen, S. 105); das Leben in Neubaugebieten (Wahrnehmung, S. 58, Die Nennung des Gespenstes, S. 163); Konflikte als Folge von Veränderungen (Morgen, S. 28, Nimm mich mit, S. 143), – Extremsituationen als Brüche im Normalen (Der Wasserfall, S. 42, Die Mine, S. 133) kommen ebenso vor wie poetische Landschaftsbeschreibungen (Gerlachsruh, S. 93, Romantischer Versuch, S. 130), selbstironische Betrachtungen (Nur so etwas wie ein Film im März, S. 19, Die Wiese ist grün, latsch, latsch …, S. 120) oder Grotesken auf den Zeitgeist (Das Kasperletheater, S. 147, Das UFO landet, S. 155). Und immer wieder Variationen eines Themas: Das Cafe, die Kneipe, Er und Sie, der einsame Gast, der seltsame Gast, die letzten Gäste, die Abschiedsstimmung, schließlich der Stuhl im Cafe Maitre als titelgebende Geschichte (S. 67). Wer es liebt, auf einem solchen Stuhl Platz zu nehmen, wird auf den folgenden Seiten von dort aus beobachten können.
Hans Weil